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Eine St. Martin zugeschriebene Körperreliquie

- ein mittelalterliches Sachzeugnis des Martinskults im Saargebiet?

Detail Inschrift
Abb. 1: Detail mit Inschrift: "S[ancti] Martini ep[iscop]i Turone[n]sis" (=des Heiligen Martin, Bischof von Tours)


Vorgestellt wird ein inschriftlich dem Heiligen Martin von Tours zugeschriebener Reliquienknochen, der zuletzt in einem Privathaushalt in unmittelbarer Nähe zur Martinskirche in Kölln (Köllerbach, Stadt Püttlingen), Saarland aufbewahrt wurde. Die Reliquie ist mit einer textilen Einfassung versehen, die vermutlich in die Zeit um 1600 datiert. Die Inschrift könnte älteren, mittelalterlichen Ursprungs sein.

Einige Worte zur Vita und zur Verehrung der Reliquien des Heiligen Martin von Tours

Martin von Tours wurde um 316 / 317 als Sohn eines römischen Militärtribunen in Sabaria (Pannonien, Ungarn) geboren. Mit 15 Jahren kam er zum Militär, wurde im Alter von 18 Jahren getauft und verließ im Alter von 20 Jahren den Dienst vor einem neuen Germanenfeldzug. Er begab sich zunächst zu Hilarius von Poitiers, wirkte anschließend als Prediger an seinem Geburtsort und lebte dann an verschiedenen Orten im Norden der italienischen Halbinsel als Eremit. Im Jahr 361 kehrte er zu Hilarius zurück und trug in Logotiacum (Ligugé) bei Poitiers zur Gründung der ersten Mönchsgemeinschaft Westeuropas bei, in der er auch mehrere Jahre lebte.
Im Jahr 371 wurde er zum Bischof von Tours gewählt. In Marmoutier nahe Tours gründete er ein weiteres Kloster, eine laurenartige Anlage, in der ungefähr 80 Mönche, darunter auch Mitglieder des gallischen Adels unter seiner Leitung lebten. Martin war missionarisch tätig und gründete zahlreiche Pfarreien in der Umgebung. Außerdem galt er als Wunderheiler. Er starb 397 in Candes. Die Heiligenverehrung setzte sofort nach seinem Tod ein. Berichte über Wunder, die schon zu Lebzeiten zu seiner Verehrung ganz maßgeblich beitrugen, nahmen nun zu. Martin war der erste Nichtmärtyrer, der als Heiliger verehrt wurde.
Der Martinskult der Merowinger, die den Heiligen als großen Schirmherrn verehrten, erfuhr unter dem Frankenkönig Chlodwig, dessen Armee 507 die Westgoten vor Toulouse besiegte, einen besonders starken Auftrieb. Dieser hatte den Heiligen als Sieghelfer angerufen und besuchte auf dem Rückweg vom Feldzug Tours und das Grab Martins. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Martinskult mit dem Wirken Gregors von Tours (Bischof 573–593/594). So wurde Martin bereits ein Jahrhundert nach seinem Tod als größter Heiliger und Wundertäter Galliens verehrt. Im Laufe der Merowingerzeit stieg sowohl die Zahl der gallischen Bischofsstädte mit Martinskirchen wie auch der Martinsskult an Pfarr- wie Klosterkirchen stark an. In Tours wurde neben dem Grab der Mantel Martins die wichtigste, von den Merowingern hoch verehrte Reichsreliquie (seit 679 im Königssschatz). Die Verehrung des Mantels geht zurück auf die bekannteste Legende, zu der fast unzählige Darstellungen existieren: Die Mantelteilung von Amiens, wo Martin sich wohl um 334 aufhielt. Der Überlieferung nach schnitt Martin sich vor den Toren der Stadt einen Teil seines Mantels ab um es einem Bettler zu geben.
Die Martinsverehrung breitete sich jedoch auch rasch in entferntere Regionen aus. Seit dem 6. Jahrhundert entstanden Patrozinien in Italien und Spanien und der von den Wundern Martins überzeugte Suebenkönig Chararich (550–559) erhielt Martinsreliquien für Braga in Portugal. Wohl unter Pippin dem Mittleren kam der Mantel in die Obhut der Karolinger, die die Martinsverehrung belebten und nach Friesland und in die rechtsrheinischen Gebiete trugen. In Frankreich tragen heute mindestens 297 Gemeinden den Namen von St. Martin und über 3600 Kirchen wurden ihm gewidmet.
Seit im 4. Jahrhundert, nach dem Ende der Verfolgungszeit, neben Märtyrern auch andere als vorbildlich angesehene Christen wie Heilige verehrt wurden, reicherte man deren Biographien zunehmend mit Beschreibungen und Listen von Wundern an. Gleichzeitig setzten in allen Gebieten des spätantiken Imperiums zwei Entwicklungen ein, durch die das allgemeine Bild von Heiligen als Wundertäter verstärkt wurde - zum einen die Verehrung der Reliquien und Berührungsreliquien, in denen man die volle Wirkungskraft des Heiligen enthalten glaubte, zum anderen das Aufkommen von Wallfahrten zu deren Wirkungs-, Grab- und Gedenkstätten. Zu den Hauptmotiven der Pilger zählten damals wie heute Heilungswünsche von Krankheiten und Gebrechen. Die Pilger trugen die Wirkungskraft der Heiligen mit den Pilgerandenken nach Hause, die selbst Berührungsreliquien waren oder solche u.a. in Form von Wasser, Öl oder Sand enthielten.
Das Grab des hl. Martin entwickelte sich bis zum Spätmittelalter zur größten Wallfahrtsstätte nach Rom und zog Heerscharen von Pilgern an. Im Jahr 1562 zerbrachen jedoch Hugenotten Tabernakel und Reliquienschrein und zerstreuten die Überreste des Leichnams. Später sollen nur noch wenige Teile, darunter eine Elle, von einem Priester geborgen worden sein. Diese befinden sich heute in der neugebauten Martinskirche von Tours. (Quelle: Zusammenfassung vorwiegend aus dem Lexikon des Mittelalters, Stuttgart/Weimar 2000).



Aufsicht
Abb. 2: Gesamtansicht mit Oberseite der Textileinfassungen


Die inschriftlich Martin von Tours zugeschriebene Reliquie - ein Sachzeugnis des Martinskults im Saargebiet?

Bei der hier vorgestellten Reliquie handelt es sich um eine menschliche Speiche, deren Gelenkenden mit einer weich ausgestopften, verzierten textilen Einfassung versehen sind. Ihre Länge beträgt insgesamt ca. 24,5 cm. Vermutlich ist es eine der größten heute noch vollständig erhaltenen, dem hl. Martin zugeschriebenen Körperreliquien. Oft wurden größere Stücke zerteilt um möglichst vielen ein Stück zukommen zu lassen: im Jahr 1519 beschenkte beispielsweise die Kirche St. Leodogardis zu Cognac die Utrechter Kirche mit einem Armknochen des hl. Martin unter der Bedingung, daß der Knochen mit zwei anderen Kirchen geteilt werden müsse. So erhielten neben Utrecht auch noch Emmerich und Halle bei Brüssel jeweils ein Stück. Das den Utrechtern verbliebene Stück wurde auf dem Martinusaltar im nördlichen Querschiff der Domkirche in einem hohen Gefäß aus vergoldetem Silber zur Verehrung aufgestellt. Ein einziger Besuch des Altars soll zahlreiche Ablässe gewährt haben. Das nach Emmerich verbrachte Stück wurde in einem 52 cm hohen, teilvergoldetem Armreliquiar aus gedrehtem Silber ausgestellt und ist heute noch in der Schatzkammer der dortigen Martinskirche vorhanden. (Quelle: Henk van Os, Der Weg zum Himmel, Reliquienverehrung im Mittelalter, deutschspr. Ausg., Regensburg 2001.)
Zur Herkunft der nachfolgend beschriebenen Reliquie ist lediglich bekannt, daß sie zuletzt in einem unmittelbar bei der wohl spätestens im 9. Jahrhundert gegründeten Martinskirche in Kölln (Köllerbach, Saarland) gelegenen Haus aufbewahrt wurde, aus dem sie nach dem Ableben des Besitzers um 2001 mit dem Hausinventar "entrümpelt" wurde. Wie und wann das wohl ehemals in kirchlichem Besitz befindliche Stück dorthin gelangte und wo es sich vorher befand, ist bislang nicht bekannt. Es darf jedoch angenommen werden, daß es ebenfalls in einem Reliquiar aufbewahrt wurde und zur Verehrung in einer Kirche ausgestellt war. Ob sich diese Kirche in der Saarregion befand und ob möglicherweise sogar die Kirche in Kölln zu den ehemaligen Aufbewahrungsorten zählt, läßt sich nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht beantworten. Obwohl die Reliquienverehrung zweifelsfrei ebenso verbreitet war wie in den anderen Regionen, sind im Saargebiet nur sehr wenige Reliquien und Reliquiare aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit erhalten geblieben.

Die textilen Einfassungen der Reliquie wurden im November 2004 von Textilrestauratorin Brigitte Dreyspring untersucht. Im Folgenden eine Zusammenfassung der wesentlichsten Ergebnisse des Untersuchungsberichts:

Beschreibung
Der Armknochen ist an den zwei Enden in ovaler Form gepolstert, mit ungemustertem Seidengewebe verkleidet und mit Metalllitzen und Pailletten verziert. Das Mittelstück des Knochens zeigt zwei ringförmige Streifen aus gemustertem Seidengewebe, Metalllitzen und Pailletten. In der Mitte zwischen den Ringen steht die mit Tinte geschriebene Aufschrift: "S Martini epi Turonesis". Neben dem linken ringförmigen Streifen im Mittelfeld ist ein roter Seidenzwirn um den Knochen gebunden.
Das Obergewebe der beiden Endstücke ist jeweils aus kleinen Gewebestücken zusammengesetzt: links aus drei Stücken mit einer Längs- und einer Quernaht, rechts aus zwei Stücken mit einer Quernaht. Diese Längs- und Quernähte sind mit feiner Naht vor dem Aufbringen auf den Knochen gefertigt. Anschließend sind die Gewebe um die Enden des Knochens gelegt, eingeschlagen und mit einer weiteren Naht in Überfangstichen geschlossen, die Kanten in Richtung Knochenmitte nach innen eingeschlagen, die oberen Kanten der Gewebe zusammengezogen und überstochen.
Da nicht eindeutig festgestellt werden kann, ob die Nähmaterialien identisch sind, lässt sich nicht nachvollziehen ob die Seidengewebe in Zweitverwendung (mit älteren, bereits vorhandenen Nähten) benutzt wurden oder speziell für das Anbringen am Knochen zusammengesetzt wurden.

Seitenansicht
Abb. 3: Seitenansicht mit Inschrift


Zustand
Die textilen Verkleidungen und Verzierungen am Reliquienknochen sind relativ gut erhalten. Die Seidengewebe und Nähfäden, ursprünglich wohl lachsrot und karmesinrot, sind verblasst bis auf einzelne noch rote Fäden in dem Seidendamast der ringförmigen Streifen und dem dicken, um den Knochen gebundenen Seidenzwirn. Die Seidengewebe an den gepolsterten Enden sind vergraut und sicherlich vom Gebrauch durch Anfassen verschmutzt. Im linken Ende weist das Seidengewebe in der Quernaht eine Scheuerstelle über 2 mm auf (was Einblick auf das Untergewebe ermöglichte). Die Metallfäden auf Silberlahnbasis sind dunkel angelaufen. Einzelne Nähfäden zur Befestigung der Litzen zeigen kurze lose Fadenenden. Die Vergoldung auf den Pailletten ist geringfügig abgerieben. Bei den ringförmigen Streifen im Mittelstück des Knochens fehlen links ca. vier Pailletten, rechts fehlen zwei Pailletten.

Überlegungen zur Datierung
Der Reliquienknochen ist sehr sorgfältig und mit Bedacht ausgeschmückt. Die textilen Verkleidungen und Verzierungen am Reliquienknochen scheinen einheitlich und zeitgleich angebracht worden zu sein. Die Nähfäden zur Montierung der Seidengewebe sowie die Fäden zur Befestigung der Litzen sind vermutlich identisch. Die Nähtechnik und Art der Anbringung weist keine Unterschiede auf. Lediglich der rote Seidenzwirn, um das Mittelstück des Knochens gebunden, ist vermutlich eine spätere Zutat, eventuell war hier eine weitere Markierung oder Beschriftung angebracht.

Detail Textileinfassung
Abb. 4: Detail der Textileinfassung.

Die verwendeten Materialien sprechen für eine Ausschmückung des Reliquienknochens um 1600 (Ende 16. bis 1. Hälfte 17. Jahrhundert): Das ungemusterte Seidengewebe für die Verkleidung der Knochenenden gibt keine Datierungshilfe, da Seidengewebe in Leinwandbindung zu jeder Zeit gebräuchlich waren. Die Musterung des seidenen Damastgewebes der ringförmigen Streifen kann nur erahnt werden, da die Ausschnitte zu klein sind für ein deutliches Musterbild. Jedoch lässt sich ein kleinteiliges, bewegtes Muster, eventuell mit Ranken oder kleinen Voluten ablesen. Seidengewebe in Damasttechnik am Ende des 15. Jahrhunderts zeigen eher linienförmige Muster mit größeren Leerflächen (z. B. Granatapfelmuster). Ende des 16. Jahrhunderts werden die Muster kleinteiliger, die Motive flächig ineinander gefügt. In der 2. Hälfte des 17. Jahrhundert sind die Motive wieder großflächiger. Daher könnte man die kleinen Damaststreifen eher dem Gewebetypus um 1600 zuordnen.
Die Art der Verzierung auf den gepolsterten Enden aus zusammengesetzten Litzen erinnert an die Zackenspitzen des 16. Jahrhunderts, die als Nähspitze oder Klöppelspitze hergestellt wurden und geometrisch-lineare Muster aufweisen. In der Spitzenkunst wird die Zackenspitze im Laufe des 17. Jahrhunderts von anderen Musterformen und Techniken abgelöst. Sie erhält sich vorwiegend im kirchlichen Bereich in Form von geklöppelten Metallspitzen, die zur Ausschmückung kirchlicher Textilien gebraucht werden.
Die Litzen aus Metallfäden an dem Reliquienknochen, insbesondere die geklöppelte Zickzacklitze in Flechtschlag mit Picots sprechen für eine Entstehungszeit der Textileinfassung vom Ende des 16. Jahrhundert bis in die 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts.

Text/Zusammenstellung, Fotos: Jan Selmer, Juli 2008.
Dieser Beitrag wurde in geringfüfig veränderter Fassung publiziert in: Joachim Conrad [Hg.], Die evangelische Martinskirche in Köllerbach und ihre Gemeinde. Festschrift zur 800-Jahr-Feier der ersten urkundlichen Erwähnung. Saarbrücken 2022. S. 225–228.

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